Kein anderes Wort zeigt so deutlich, nach welchen Prioritäten tatsächlich gehandelt wird. Und das nicht nur aktuell in der weltweiten Krise. Es zeigt sich gerade sehr deutlich, wie schon seit langem gespielt wird. Systemrelevanz prägt die Prioritätenliste der staatlichen Maßnahmen- und Zuwendungsliste.

Begriffe sind die Bausteine unseres Denkens

Wenn die ganze Situation nicht so dramatisch (und nicht so nicht ge-recht) wäre, dann müsste man den Hut ziehen. Da ist nämlich ein eleganter, überaus zeitsparender und fast unmerklicher Prozess erfolgt. Branchen und Firmen, die mit diesem Adjektiv ’systemrelevant‘ versehen werden, schlüpfen wie von Zauberhand unter die schützende und protegierende Hand des Staates.

Schwupps, auf einmal kennt fast jeder in Deutschland den Begriff ’systemrelevant‘ und verbindet ihn im Zusammenhang mit der aktuellen Unsicherheit und Not mit ’notwendig‘. Das macht die komplexe Welt und den unerklärlichen Virus wieder einfacher: nötig – unnötig, wichtig – unwichtig, gut – schlecht, Arbeit – Spaß. Plötzlich ist der Begriff in aller Munde und wird unreflektiert übernommen. Diese Form der Manifestation prägt nun elementar unser Denken. Die einfache Begriffsnennung und Zuschreibung reicht aus und wirkt wie eine Firewall für Andersdenkende.

Pragmatismus ist Basis für Dummes

Wenn es um die Priorität in der Not geht, ist keine Zeit für lange Debatten vorhanden. Das versteht und akzeptiert jeder. Keiner will eine Feuerwehr, die vor dem eigenen, brennenden Haus erst einmal ein Team-Meeting durchführt. Pragmatismus im Denken und Handeln ist angesagter denn je und wird insbesondere von der Wirtschaft einem langatmigen Diskurs vorgezogen. Die Schnellen fressen ja die Langsamen, angeblich.

Diese kollektive Bejahung wirkt zudem wie ein trojanisches Pferd, mit dem sich vor allem große Konzerne gerne unter den Schutzschirm des akzeptierten Denkens im Sinne der Systemrelevanz befördern lassen. Das Spiel mit der Angst vor einem großen Kollaps legitimiert schneller als eine lange Diskussion und gesellschaftliche Auseinandersetzungen.

Diese schnellen Automatismen bergen eine immense Gefahr. Vor allem dann, wenn dadurch die Grundprinzipien unseres Zusammenlebens und sogar die Grundgesetze auf der Welle von Emotionen und Intransparenz leichtfertig zurückgestellt oder gar missachtet werden.

Die Macht der Potenziale

Aktuell wird deutlich, wie sehr wir mehr brauchen als Nahrung und absolute Sicherheit vor Krankheit. Es ist ein besonderes Spiel der Macht im Gange. Wir fühlen uns gegenüber dem Virus machtlos. So haben Menschen immer gefühlt, ob sie nun vor dem Mammut oder vor den unerklärlichen Wirkungen der Natur standen. Leben ist immer lebensgefährlich, wie Erich Kästner es auf den Punkt brachte.

In uns Menschen steckt ein enormes Potenzial an Leben, an Energie und Talent. Immer dann, wenn dieses menschliche Potenzial, diese Sehnsucht nach anderen Menschen, Kultur und Spaß eingeengt und unterdrückt wird, verschafft es sich Raum. Je enger und fester der Raum, desto größer der Knall.

Dieses Spiel der Macht wird zunehmend ein Machtspiel zwischen Überleben und Leben, Notwendung und Menschsein, Wirtschaft und Gesellschaft, Sicherheit und Arbeit.

Aufstand der ‚Nichtsystemrelevanten‘

Die Gesundheitswirtschaft sowie die Lebensmittelbranche stehen nach herzlichem Applaus gerade nicht mehr so sehr auf der Bühne. Im Fokus der Systemrelevanten stehen aktuell vor allem die Großen. Doch die Geduld der Verständnisvollen geht zu Ende, und auch deren Geld. Die riesige Schar der Solopreneure regt und formiert sich.

Im Juni waren die ersten Aktionen von Künstlern und aus der Veranstaltungsbranche sichtbar. Für August und September 2020 wird es hier deutlicher, Demonstrationen vor Landtagen und Bundestag verbinden sich mit einer zunehmenden Solidarität in der Gesellschaft.

Es beginnt eine Phase der Umdeutung – systemrelevant ist, wer und was im System unserer Gesellschaft wertvoll ist. Die Zeit ist reif für schlaues Umdeuten und Umdenken.

Viel besser, als ich das hier alles schreiben kann, singt es Klaus Spangenberg aus vollem Herzen: Nicht systemrelevant

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