Sage mir, wie du reist, und ich sage dir, wie du lebst.
Sie werden vielleicht denken: „Was soll das Reisen schon über mich aussagen? Wie gar zeigen, wie ich lebe? Es ist doch nur eine Reise, Punkt.“ Und ich kann Sie verstehen. Doch lassen Sie mich etwas ausholen, um Ihnen zu erklären, wie ich darauf komme, was ich damit meine – und warum Ihr Leben auf diesem Wege erfüllter werden kann.
Zurück zur Quelle
Zunächst eine kleine Gedankenreise: Menschen fühlen sich generell machtlos. Machtlos vor der Natur, vor anderen Menschen, vor allen möglichen Gefahren … Wie gehen wir damit um?
Wir versuchen die Gefahren zu „umgehen“. Um das Gefühl der Machtlosigkeit zu bannen, gibt es deswegen Ab- und Versicherungen aller Art. Statt uns den Gefahren, Unwägbarkeiten, Unsicherheiten des Lebens zu stellen, gehen wir ihnen möglichst aus dem Weg.
Mit dem Ergebnis: Wir entwöhnen uns des Umgangs mit Gefahren, werden dadurch immer machtloser – und lassen unsere Potenziale verkümmern, einkerkern. Genau die aber sind unsere Quelle, unser Lebenselixier. Wie kommen wir an unsere versickerten Möglichkeiten heran?
Nun, es gibt kein Hauruck, das helfen könnte! Eher das Gegenteil ist hilfreich, und zwar als ersten Schritt: Langsamkeit. Ja, Lenzen, das wäre die Kunst, vorbereitende Langsamkeit bewusst und genussvoll zu praktizieren. Anhalten. Innehalten. Aushalten. Der zweite Schritt ist die Kunst des Lassens, eine Kunst mit mehreren Unteretappen. Vom Einlassen und Weglassen über das Loslassen bis hin zum Belassen und einem Wunschzustand der Gelassenheit, dem Ziel.
Bereits dieser Weg ist eine Reise, ich nenne ihn „Schlaulenzen“ und meine damit eine Grundhaltung, die eine Kunst an sich darstellt. Und jetzt komme ich zum Ausgangspunkt: Reisen ist die Königsdisziplin des Schlaulenzens. Auf Reisen zeigt sich, wie weit Sie es in dieser Kunst, einer Lebenskunst, gebracht haben – eben, wie Sie leben.
Reisen bedeutet Veränderung
Doch was ist eine Reise? Der Urbegriff der Reise, der sich aus dem althochdeutschen Wort „reisa“ ableitet, bedeutete „Aufbruch, Zug und Fahrt“ und bezeichnete das Sich-Aufmachen, Sich-auf-den-Weg-Machen.
Für mich ist Reisen gleichbedeutend mit Bewegung, und zwar nicht unbedingt nur mit Auto, Bahn oder Flugzeug, sondern ganz persönlich. Indem Sie den gewohnten Kontext verlassen, indem Sie sich mit etwas Neuem konfrontieren, was einen berührt, irritiert – setzen Sie sich sich in Bewegung. Sie treten eine Lebensreise an, die Sie auf jeden Fall nicht unverändert lässt. Reisen bedeutet Veränderung.
Ich könnte auch etwas allgemeiner sagen: Es geht beim Reisen um einen Perspektivwechsel. Wir alle brauchen nämlich unterschiedliche Perspektiven, um uns und die Welt in ihrer Vielgestaltigkeit überhaupt zu erkennen.
Ein Lehrsatz der Erziehungswissenschaft besagt: „Das Du ist konstitutiv für das Ich.“ Ich kann mich also nur wirklich entwickeln, wenn ich mich mit anderen Menschen über ihre Sichtweisen, über ihre Wahrheiten austausche. Und Wahrheit ist relativ. So, wie jeder die Welt sieht, hält er sie für wahr. Indem ich mich mit anderen austausche, kann ich meine Wahrheit überprüfen – und neue Wahrheiten entdecken. Wobei mir denn immer auch bewusst ist, dass hinter der nächsten Wegbiegung eine weitere Wahrheit der Entdeckung harrt.
Kein Wegkommen, sondern Ankommen
Reisen ist somit immer eine Form des Lernens und der persönlichen Entwicklung. Dazu gehören alle Formen des Entdeckens, Erforschens. Der Reiseeffekt ist dann spürbar, wenn Sie etwas erfasst und fordert, ganz und gar.
Vielleicht denken Sie jetzt: „Das ist ja der pure Stress!“ Da kann ich Sie beruhigen. Denn der Weg vom Lenzen zum Schlaulenzen ermöglicht uns einen entspannten Zustand, seelenruhig die Dinge zu nehmen, wie sie kommen.
Es gelingt auf einmal zu erkennen, was ist, was passiert ist, warum es passiert ist. Auf einmal kommen wichtige Erkenntnisse, wir erfahren, was uns wirklich bewegt, wer wir sind und warum wir etwas tun oder lassen. Wir sehen dann sogar auch, was zu tun ist und was besser zu lassen ist.
Wenn es Ihnen also gelingt, in Seelenruhe zu reisen, werden Sie reich beschenkt. Es geht nicht mehr ums Wegkommen mit Vorzeigen, sondern ums Ankommen mit Nachwirkung. So zu reisen lehrt Sie das Sehen wieder auf eine neue Art. Und so, wie Sie reisen, leben Sie auch.